creative resilience
- una seeli

- 24. Okt.
- 7 Min. Lesezeit
kreativity unplugged
think wild – and take humor seriously

street art in barcelona © una seeli
flexible Widerstandskraft – gerade jetzt
Unsere Welt verändert sich rasant – Technologien, Werte und Gewissheiten sind im Dauerwandel. Viele Unsicherheiten prägen unsere Zeit – das fordert uns alle. Besonders Kinder und Jugendliche erleben diese Veränderungen oft als Mischung aus Angst, Abhängigkeit und einem schwindenden Vertrauen in die eigene Wirksamkeit.
Kreative Resilienz – also die Fähigkeit, trotz Unsicherheit handlungsfähig zu bleiben – ist ein Kernaspekt kreativer Haltung. Sie meint innere Flexibilität: die Fähigkeit, mit Ungewissheit umzugehen, ohne den Halt zu verlieren.
vorwärts wachsen
Resilienz – ein Wort, das man ständig hört. Aber was meint es eigentlich genau?
Der Begriff stammt ursprünglich aus der Physik: resilire – zurückspringen.
Gemeint ist die Fähigkeit eines Materials, nach Druck oder Dehnung wieder in seine Form zurückzufinden.
In der Psychologie meint Resilienz etwas Ähnliches – aber mit einem entscheidenden Zusatz: Es geht nicht nur ums Zurückfedern, sondern ums Weiterwachsen.
Resilienz bedeutet Widerstandskraft: unter Druck handlungsfähig bleiben, sich neu ausrichten und vorwärts wachsen.
Kreative Resilienz heisst, Widerstandskraft in Gestaltung zu übersetzen. Sie beschreibt die Fähigkeit, unter Unsicherheit, Druck oder nach Rückschlägen handlungsfähig und erfinderisch zu bleiben – also Lösungen zu finden, Perspektiven zu wechseln und Ressourcen, innerlich wie äusserlich, zu mobilisieren.
Resiliente Menschen bleiben handlungsfähig, wenn’s eng wird. Sie denken quer, improvisieren, nutzen, was da ist – und gestalten daraus Neues. Sie beginnen zu kreieren, statt zu erdulden.
Broaden & Build
Emotionen als Rohstoff für Ideen – Barbara Fredrickson, Psychologin an der University of North Carolina, hat etwas Erstaunliches gezeigt: Positive Emotionen fühlen sich nicht nur gut an – sie verändern auch, wie wir denken.
Freude, Neugier, Interesse öffnen den mentalen Raum. Wir sehen mehr Möglichkeiten, kombinieren freier und denken mutiger. Fredrickson nennt das den Broaden-and-Build-Effekt:
Erst weiten positive Emotionen den Blick (broaden), dann bauen sie mit der Zeit stabile Ressourcen auf (build) – Selbstvertrauen, Beziehungen, Zuversicht.
Und genau hier liegt der Zusammenhang mit kreativer Resilienz:
Wer innerlich weit denken kann, findet auch unter Druck neue Wege. Positive Emotionen machen uns flexibler im Denken – und dadurch widerstandsfähiger im Handeln.
Kreativität und Resilienz sind also keine Gegensätze, sondern zwei Seiten derselben Bewegung:
beide beginnen, wenn sich der Radius unseres Denkens erweitert – und wir etwas schaffen, das vorher nicht da war.

on a road somewhere in mexico © una seeli
Stress Test
Und welchen Einfluss hat Stress? Druck macht keine Diamanten. Aber manchmal gute Ideen.
Eine aktuelle Meta-Analyse der Universität Graz zeigt: Zu viel Druck führt zu Tunnelblick. Unter chronischem Stress sinkt die Fähigkeit, flexibel zu denken. Interessant ist, dass das Bild kippt, sobald wir an der Intensität drehen.
Ein bisschen Druck – knappes Timing, ein Limit bei der Materialauswahl – kann die Kreativität kurzfristig leicht steigern. Wenn die Bedingungen nicht perfekt sind, werden wir erfinderisch. Das nennen Forscher:innen Challenge Stressors – Reize, die anregen statt lähmen. Bei moderater Dosis fördert Zeitdruck also Fokus, Energie und Flow. Wird der Druck aber zu gross, kippt der Effekt klar: Aus Flow wird Freeze.
Mindset – das A und O
Menschen, die Selbstwirksamkeit erlebt haben, wissen: Ich kann. Solche Erfahrung prägt. Wir beginnen daran zu glauben, dass wir kreativ handeln können und etwas bewegen. Und wer das glaubt, handelt tatsächlich kreativer.
Dieser Glaube, die sogenannte Creative Self-Efficacy, wirkt wie ein innerer Muskel. Er fängt Rückschläge ab, macht mutiger, experimentierfreudiger, und unabhängiger vom Urteil anderer.
Wie dieser Muskel gestärkt wird?
Durch Erfahrungen des Gelingens. Nicht durch Erfolg an sich, sondern durch Momente, in denen wir merken: Ich habe etwas ausprobiert – und es hat funktioniert.
Albert Bandura, der den Begriff der Selbstwirksamkeit geprägt hat, beschreibt vier Quellen: eigene Erfolge, das Beobachten anderer, verbales Ermutigen und das Regulieren der eigenen Emotionen. Wer also kleine Erfolge wahrnimmt, inspirierende Vorbilder sieht, echtes Feedback bekommt und Stress bewältigen kann, stärkt Schritt für Schritt die eigene Selbstwirksamkeit.
gefordert, aber nicht überfordert
Förderlich ist, wenn wir gefordert, aber nicht überfordert sind – wenn wir uns wirklich anstrengen müssen und an einer Aufgabe ins Schwitzen kommen, aber spüren, dass sie noch machbar ist. Selbstwirksamkeit entsteht dort, wo wir uns anstrengen, dranbleiben, zweifeln – und dann erleben, dass es aus eigener Kraft gelingt.
Die besten Momente treten in der Regel dann ein, wenn jemand seinen Körper oder Geist bis an seine Grenzen belastet, um freiwillig etwas Schwieriges und Wertvolles zu erreichen.
– Mihaly Csikszentmihalyi
was Selbstwirksamkeit hemmt?
Wenn wir vor jeder Schwierigkeit geschützt werden. Wenn Hindernisse schon beseitigt sind, bevor wir überhaupt ins Stolpern kommen. Viele Kinder und Jugendliche erleben heute genau das: Jede noch so kleine Unannehmlichkeit wird sofort beiseitegeräumt, jede Gefahr gebannt, bevor ein Kind auch nur in ihre Nähe kommen könnte. Das ist gut gemeint, verhindert aber jede Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Den Umgang mit Herausforderungen lernt man, indem man Herausforderungen erlebt.
Wie soll ein Kind sich sicher im Strassenverkehr bewegen lernen, wenn es nie selbst gehen darf – weil es ständig gebracht und überwacht wird? Wo nichts ausprobiert werden darf, kann auch nichts gelingen. Ohne Reibung entsteht keine Richtung. Wer nie spürt, was Anstrengung alles bewegt, lernt auch nie die eigene Stärke kennen.
We don’t grow when things are easy; we grow when we face challenges.
– Joyce Meyer
Ebenso lähmen Perfektionismus, Überkontrolle und Dauerbewertung. Wenn kreative Prozesse ständig beurteilt werden, bevor sie wachsen dürfen, schrumpft der Handlungsspielraum – und mit ihm die Zuversicht und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten.
Studien zeigen: Menschen mit hoher Creative Self-Efficacy denken origineller, halten länger durch, wenn’s schwierig wird; sie fangen Rückschläge leichter ab, sind mutiger, unabhängiger und experimentierfreudiger. Selbstvertrauen ist hier kein Nebeneffekt, sondern der Motor, der aus Ideen Handlungen macht.
Oder anders gesagt: Wer an sich glaubt, bleibt dran.

wix medien
Post-Traumatic Growth
Selbstwirksamkeit zeigt sich nicht, wenn alles glattläuft, sondern erst, wenn etwas ins Wanken gerät. In diesem Moment entscheidet sich, ob wir zerbrechen oder gestalten.
Krisen tragen immer auch das Potenzial für Wachstum in sich. Nicht, weil Leid schöpferisch macht, sondern weil es Reflexion erzwingt. Bruchstellen können zu Wachstumspunkten werden. Die Forschung nennt dieses Phänomen Post-Traumatic Growth – Wachstum nach der Erschütterung. Menschen, die traumatische Erfahrungen verarbeiten, berichten von veränderten Prioritäten, tieferem Selbstverständnis, stärkerer Verbundenheit.
Wir aktivieren in solchen Phasen dieselben kognitiven Prozesse, die auch kreatives Denken prägen: Offenheit, Perspektivwechsel, die Fähigkeit, disparate Elemente zu etwas Neuem zu verbinden.
Brüche öffnen immer Räume. Nicht das Ereignis selbst ist entscheidend, sondern der Umgang damit. Ob wir reparieren oder transformieren. Ob es uns gelingt, das, was auseinanderfällt, als Rohstoff für etwas zu begreifen, das es vorher nicht gab.
Genau hier treffen sich Resilienz und Kreativität: Beide sind Akte des Gestaltens.
creative Practice
Kreative Resilienz entsteht im Alltag, nicht im Kopf. Hier ein paar Impulse, die dich wach, flexibel und mutig machen – Miniroutinen mit großer Wirkung.
emotional aufwärmen
Starte den Tag mit drei Dingen, die dich heute neugierig machen. Neugier ist das Gegenteil von Angst – und der einfachste Einstieg in kreatives Denken.
Schreib sie auf – und notiere dein Warum. Das „Warum“ lenkt die Aufmerksamkeit auf das Gefühl dahinter und öffnet den mentalen Raum. So aktivierst du genau jene Hirnnetzwerke, die für Offenheit, Motivation und kreative Ideenbildung zuständig sind.
beide Modi trainieren
Erst frei denken (Ideen sprudeln lassen – divergent), dann ordnen (clustern, auswählen, weiterdenken – konvergent). Dieses rhythmische Hin-und-Her-Pendeln stärkt genau die neuronalen Netzwerke, die Resilienz erzeugen – Assoziation und Kontrolle im Dialog.
Schon kurze fünf-Minuten-Sprints genügen: erst ungefiltert Ideen notieren, dann drei Minuten pausieren – und danach sortieren.
Erfolge sichtbar machen
Halte kleine Fortschritte fest, auch die unscheinbaren. Schreib abends eine Mini-Liste: Was heute funktioniert hat – und warum. Das stärkt dein kreatives Selbstvertrauen und verändert, wie du über dich selbst denkst. Du wirst mutiger im Ausprobieren – weil du dir selbst Kompetenz nachweist – das wirkt besser als jede Affirmation.
Mindfulness als Mikropause
Fünf Minuten bewusstes Atmen vor der nächsten Aufgabe senken nachweislich Stress und erhöhen die Konzentration. Wer lieber zeichnet als stillsitzt: mach’s mit Stift und Linie. Zeichne blind, langsam, ohne Ziel. Klimpere zehn Minuten auf der Gitarre. Es geht nicht ums Resultat, sondern um den Reset. Kleine Pause, großer Effekt.
Druck gestalten, statt vermeiden
Spiel mit Limits: weniger Zeit, weniger Farben, weniger Worte. Paradox, aber wahr: Einschränkung schärft Fokus und Flexibilität – das, was kreative Resilienz stärkt.
Beispiel: Entwirf ein Konzept in zehn Minuten, gestalte ein Objekt nur mit Materialien, die gerade auf deinem Tisch liegen, koche ein Gericht mit dem, was der Kühlschrank heute hergibt – am besten, nachdem du ein paar Tage nicht einkaufen warst.
Exkurs zum Schluss – Barcelona Design Week 2025
Während wir hier über innere Haltung sprechen, wurde in Barcelona Mitte Oktober die gesellschaftliche Dimension von Creative Resilience verhandelt. Die Barcelona Design Week 2025 (7.–17.10. 2025) widmete ihre Jubiläumsausgabe genau diesem Thema – und fragte, wie Gestaltung auf eine Welt reagieren kann, die ständig im Wandel ist.
Designer:innen, Architekt:innen, Künstler:innen und Forscher:innen trafen sich, um zu zeigen, dass Resilienz kein Rückzug ist, sondern ein Gestaltungsprinzip. Wie kann Design auf Unsicherheit antworten, ohne nur in einem Reparaturmodus zu reagieren? Wie lassen sich Städte, Materialien, Prozesse so denken, dass sie nicht nur widerstehen, sondern erneuern?
Was mich daran fasziniert: Hier wird Resilienz als kollektiver Prozess verstanden – als Fähigkeit von Gesellschaften, Systemen, Kulturen, neue Formen zu finden, wenn alte brechen. Design im weitesten Sinne: als Haltung, die Wandel nicht fürchtet, sondern formt.

installation „breathe with me“ – annabelle schneider, barcelona design week 2025 bild: © barcelona design week 2025 / foto: damià figueras – mit freundlicher genehmigung
Annabelle Schneider – Breathe with me – Raumskulptur aus Textil und Luft.
Ein temporärer, aufblasbarer Raumkörper aus weissem Textil zieht sich organisch durch einen rohen Industrieraum. Die weichen Formen und das pastellfarbene Licht erzeugen eine poetische Atmosphäre im fabrikartigen Umfeld – ein Sinnbild für Wandel, Anpassung und Durchlässigkeit.
In the face of AI, climate change, and social tensions, creative resilience doesn’t mean resisting – it means reconfiguring and transforming uncertainty into opportunity.
– Enric Jové, Barcelona Design Week 2025
Zwischenfazit
Kreative Resilienz ist ein Trainingsfeld – für Wahrnehmung, Flexibilität und Vertrauen in die eigene Gestaltungskraft und Gestaltungsfreude. Sie zeigt sich nicht, wenn alles glattläuft, sondern wenn etwas bricht.
Wahrscheinlich liegt genau hier der Punkt: Nicht trotz allem, sondern genau da-durch.
A ship in harbor is safe – but that’s not what ships are built for.
– John A. Shedd
inspirierend:
Steve Chapman – The art of creative resilience – NABS Talks
Ein ruhiger, kluger Vortrag über das, was zwischen Unsicherheit und Gestaltung passiert. Wo Bewegung ist, entsteht Neues – wir öffnen Raum, wachsen, heilen.

steve chapman – the art of creative resilience



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